Vom Egoismus zur Agape, Teil II: Folge der natürlichen Liebe

Was haben Alice im Wunderland und Mr. Anderson/Neo aus The Matrix gemeinsam?

Sie folgen dem weissen Kaninchen.

Wenn man nicht weiss, wie man ins Wunderland kommt – oder, in die Realität heraustritt – ist man froh, wenn man etwas hat, an dessen Fersen man sich heften kann. Umso mehr, wenn dieses Etwas eine Art Magnetkraft hat, die einen mitreisst, wenn man es denn nur zulässt.

Für denjenigen, der aus seinem Egoismus heraustreten möchte, gibt es so etwas: die Liebe.

Die Liebe, von der ich spreche, ist nicht Agape, sondern etwas, das einen auf natürliche (eben nicht über-natürliche) Weise zu dem Objekt der Liebe hinzieht. Man könnte sie als eine Art Bedürfnis bezeichnen, obwohl sie sich deutlich von den grundlegenden Bedürfnissen wie Hunger oder Durst unterscheidet, die sofort verschwinden, sobald sie befriedigt sind; die Liebe bleibt bestehen.

Ausserdem muss hinzugefügt werden, dass die «Liebe» kein monolithischer Block ist. Es gibt bescheidene Vorlieben für unbelebte Dinge, dann die drei natürlichen Lieben Storge (Zuneigung), Philia (Freundschaft) und Eros (romantische Liebe) und dann die göttliche Agape[1]. Hier geht es nur um die drei natürlichen Arten und Vorlieben.

Die Liebe führt uns «aus uns selbst heraus».

Sie sind natürlich, weil sie inhärent sind, «einfach da», als Teil unserer Natur; sie brauchen nicht durch einen Willensakt in Bewegung gesetzt zu werden, sie sind bereits in Bewegung.

Sympathien sind eine Art «Proto-Liebe» (eben Vor-lieben). Ich meine den Genuss von etwas so Bescheidenem wie den Duft von Erbsenblüten oder den Gesang der Vögel auf einer Waldlichtung an einem Spätsommerabend oder den Geschmack von frisch gebackenem Knoblauchbrot. Vor-liebe hat haben eine wichtige Gemeinsamkeit mit der Liebe: Sie bringen uns «aus uns selbst heraus». Der Duft der Erbsen, der Geschmack des Brotes oder der Klang der Vögel sind etwas «da draussen»; sie verbinden uns mit den Gegenständen, zu denen sie gehören, nicht mit den Gefühlen, die wir haben, wenn wir mit diesen Gegenständen in Kontakt sind. Die Gefühle sind nur ein willkommenes Nebenprodukt, das unweigerlich mit dem Genuss der Gegenstände einhergeht. Von den eigenen Gefühlen zu sprechen, anstatt von dem Objekt, das sie hervorruft – wie das Schulbuchbeispiel, das C.S. Lewis in Die Abschaffung des Menschen[2] so scharf kritisiert – ist in der Tat ein Zeichen von Degradierung, weil es ein Zeichen von Selbstbezogenheit ist.

Storge ist das altgriechische Wort für «Zuneigung». Das ist das, was wir für Menschen (und Haustiere!) empfinden, die wir einfach mögen, ohne dass diese Zuneigung romantische Untertöne hat und ohne die erhabene geistige und spirituelle Verbundenheit einer Freundschaft zu haben. Das Paradebeispiel für Storge ist sicherlich die Liebe, die Eltern für ihre Kinder empfinden. Auch hier führt uns die Zuneigung aus uns selbst heraus – wie bei Eltern, die sich zutiefst um ihre Kinder kümmern und nicht um ihre Gefühle für ihre Kinder.

Dann die Freundschaft (gr. Philia). Wie C.S. Lewis so unnachahmlich schreibt: «Liebende stehen sich normalerweise von Angesicht zu Angesicht gegenüber und sind ineinander vertieft; Freunde stehen Seite an Seite und sind in ein gemeinsames Interesse vertieft.» (The Four Loves, 91, meine Übers.). Freunde zu sein bedeutet, etwas zu haben, das einen zutiefst verbindet; nicht nur ein oberflächliches, flüchtiges Hobby, sondern vielmehr eine allumfassende Lebenseinstellung. Lewis selbst gehörte zu den «Inklings», einem Kreis von Schriftstellern mit tiefem Interesse am Christentum, Mythen und Bedeutung.

Natürlich bedeutet Freundschaft nicht, dass man durch den anderen hindurchschaut, als wäre er durchsichtig, nur weil der Dreh- und Angelpunkt der Beziehung nicht der andere in Reinform ist (wie bei Eros); die andere Person ist als sie selbst gerade durch das gemeinsame Interesse wesentlich, weil dieses Interesse die tiefsten Aspekte ihrer Persönlichkeit widerspiegelt. Das macht die Freundschaft fast zu einer doppelt ego-zentrifugalen Kraft: Freunde sind sowohl um das gemeinsame Interesse als auch um das des anderen besorgt.

Die Freundschaft hat eine doppelte ego-zentrifugale Kraft.

Schliesslich Eros. Obwohl er im Wort «Erotik» vorkommt, ist Eros keine sexuelle Begierde (für die der Begriff Venus reserviert ist), auch wenn er natürlich dazu beiträgt. Eros ist am besten als romantische Liebe zu verstehen. Denken Sie an das obige Zitat: Liebende stehen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie wollen den anderen, weil er oder sie er oder sie selbst ist. Und zeigt sich ein weiterer scharfer Unterschied zu dem, was die Menschen oft fälschlicherweise als Eros bezeichnen: Es geht nicht um die eigenen Gefühle für den anderen, es geht wirklich um den anderen. Ein sexuelles Abenteuer wegen seiner emotionalen Ekstase zu suchen, ist in gewisser Weise das genaue Gegenteil von Eros; es ist nicht einmal Venus.[3]

Wir alle haben das eine oder das andere «weisse Kaninchen» in unserem Leben. Wir können uns jedoch auf subtile Weise vormachen, dass wir ihnen folgen, obwohl wir es in Wirklichkeit nicht tun: nämlich dann, wenn wir uns auf die Gefühle konzentrieren, die sie hervorrufen, anstatt auf ihre eigentlichen Objekte. Wenn wir aber einfach das Natürliche tun und ihrem Sog folgen, machen wir einen Schritt weg vom Egoismus.


Bild von Hossam M. Omar / unsplash.com

[1] Ich verwende hier die Klassifizierung von C.S. Lewis in The Four Loves (dt. Was man Liebe nennt).
[2] Das kritisierte Schulbuch, das Coleridges Geschichte über die beiden Touristen am Wasserfall aufgreift, behauptet, dass die Aussage des einen Touristen, der Wasserfall sei «erhaben», in Wirklichkeit ein Ausdruck seiner erhabenen Gefühle ist. (Die Abschaffung des Menschen, 2-3)
[3] Mehr zum Thema Venus in The Four Loves, S. 132ff.

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