„Gesetzlichkeit“ ist ein Ding, das in christlichen Gemeinden herumgeistert wie der Weiße Zauberer durch Rohan. Es wird als bedrohlich, subversiv wahrgenommen; es sei hier und da, sagt man; wie es aber richtig aussieht, weiß man nicht, da es offenbar viele verschiedene Formen annehmen kann. Nur, wenn man nicht genau sagen kann, wie etwas beschaffen ist, wie will man dann wissen, dass man es richtig identifiziert?
Sofern man überhaupt Antworten auf die Frage bekommt, was Gesetzlichkeit ist, sind es Antworten die eher zu anderen Fragen passen. Aber mehr dazu gleich.
Klar ist, wenn man ein Problem nicht richtig fassen kann, oder aber falsch bezeichnet, ist es schwer das Problem zu lösen. Meine These hier ist, dass die tatsächlichen Probleme in Gemeinden mit dem Wort „Gesetzlichkeit“ falsch bezeichnet werden, und dass Gesetzlichkeit richtig verstanden etwas anderes ist, das aber wiederum heutzutage kaum ein Problem darstellt. Ich beginne damit, Gesetzlichkeit richtig zu definieren, und schlage dann einen besseren Begriff für das fälschlicherweise mit „Gesetzlichkeit“ bezeichnete Problem vor.
Richtig verstandene Gesetzlichkeit
Das Phänomen (allerdings nicht das Wort) der Gesetzlichkeit kommt in der Bibel vor, also sollten wir unser Verständnis darüber auch von dort beziehen. Das, was die Apostel in Apostelgeschichte 15 (und Paulus im Galaterbrief) bekämpfen, ist sicher genau das, wofür wir den Begriff verwenden sollten. Es handelt sich um die Lehre, dass Neubekehrte die jüdischen Gesetze halten müssen, um errettet zu werden (vgl. Apg 15,1). Die Jerusalemer Apostel wiesen diese Lehre entschieden zurück. In dieser Form ist Gesetzlichkeit allerdings heutzutage wohl kaum ein Problem mehr, weil das Christentum schon lange nicht mehr aus einem jüdischen Kontext heraus agiert.
In einem etwas erweiterten Sinn mag es auch Gesetzlichkeit geben, die erstens nicht direkt mit der ewigen Errettung in Verbindung gebracht wird, und zweitens nicht mit den jüdischen Gesetzen. Etwas in dieser Art spricht Paulus z.B. in Kolosser 2,18 an. Allerdings verschwimmt bereits die Grenze zwischen der klar definierten Anforderung, den mosaischen Gesetzeskatalog zu halten, und menschengemachten Vorschriften (Kol 2,22). Zu letzteren kommen wir jetzt.
Keine Gesetzlichkeit, sondern Menschengebote
Das, was für gewöhnlich mit „Gesetzlichkeit“ bezeichnet wird, ist eine Variation des Themas „menschengemachte Vorschriften oder Leitlinien“. Das mosaische Gesetz war immerhin von Gott gegeben. Aber selbst es stellte nur einen „Schatten der wirklichen Dinge“ (vgl. Hebr 8,5) dar. Die Wirklichkeit, mit der Christen in direktem Kontakt stehen sollten, ist Gott selbst in Christus. Die daraus resultierende Glaubenspraxis ist nicht etwa verwässert (weil nicht mehr auf Gesetzen basierend), sondern im Gegenteil, falls überhaupt, anspruchsvoller. Wobei man hier nicht die Bergpredigt als Beispiel anführen sollte, denn Jesus erweitert nur teilweise tatsächliche mosaische Vorschriften (wie in Mt 5,21-22). Ansonsten kritisiert er menschengemachte Zerrbilder mosaischer Gesetze (z.B. in Mt 5,43ff.). Womit wir den Kreis schließen.
Da nun selbst das Befolgen der (rituellen) mosaischen Gebote im NT ausgesetzt ist, ist es a fortiori problematisch, menschengemachten Gesetzen, Vorschriften oder Leitlinien zu folgen. Ich spreche auch von Vorschriften und (im Grunde viel relevanter) von Leitlinien, weil ein plumpes Gesetz (präsentiert als Gesetz) natürlich kaum einen Christen irreführen würde; so viel Theologie haben wir fast alle intus. Das NT selbst gibt uns einige Beispiele solcher menschengemachten Gesetze:
· Asketismus (Kol 2,18)
· Engelsanbetung (Kol 2,18)
· Besonderes Hören auf Visionen (Kol 2,18)
· Verbote, Dinge zu berühren, zu schmecken oder zu verwenden (Kol 2,21; 1Tim 4,3)
· Heiratsverbot (1Tim 4,3)
Ich möchte anhand dieser nicht abschließenden Liste auf ein Merkmal solcher schädlichen Menschengebote hinweisen: Sie haben alle den „Anschein von Weisheit“ (Kol 2,23), da sie an gute Glaubenspraxis angelehnt sind. Angelehnt – nicht mehr. Zum Beispiel ist es eine weit verbreitete Praxis, zum besseren Fokus aufs Gebet und das Hören auf Gott zu fasten. Asketismus nimmt diesen Impetus auf und macht daraus eine allumfassende, drakonische Lehre des dauerhaften Verzichts auf alles, das nicht absolut lebensnotwendig ist. Visionen waren Teil der göttlichen Offenbarung an die Propheten; mit Sicherheit spricht auch heute noch Gott durch sie, aber eine Obsession mit Visionen ist sicher falsch, weil übertrieben. Oder nehmen wir das Verbot zu heiraten: hat nicht Paulus dafür geworben, in Betracht zu ziehen Single zu bleiben (1Kor 7)? Aber niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, das Heiraten zu verbieten oder schlechtzureden.
Man mag einwenden, dies seien eher Probleme der antiken Welt. Wir haben heute keine Gnostiker und Asketen mehr. Stimmt. Aber wir haben russlanddeutsche Gemeinden und Alte Versammlungen. Wir haben das Wohlstandsevangelium und charismatische Auswüchse. Wir haben Kleiderordnungen, Sitzordnungen, die Lehre vom verunreinigten Abendmahl, emotionale Ekstase, Behauptungen wie „Immobilien machen immobil“[1], oder, noch schlimmer, die Idee dass Bildung gefährlich sei.
Sollten wir dieses Phänomen mit „Gesetzlichkeit“ beschreiben? Ich meine, nein. Denn es ist klar verschieden von der Behauptung, man müsse das mosaische Gesetz halten. Man könnte eher von „Para-Gesetzlichkeit“ sprechen. Am besten aber wohl davon, dass es sich bei betreffender Idee um eine rein menschliche (wenn auch an göttliche Prinzipien angelehnte) Idee handelt, die keinerlei bindende Kraft hat. Damit demaskieren wir sie am effektivsten als das, was sie tatsächlich ist. Natürlich erfordert es Unterscheidungsvermögen, solche Menschengebote von göttlichen Weisungen zu differenzieren. Deswegen auch meine starken Bedenken bezüglich jeder anti-intellektuellen Haltung unter Christen. Sie verunmöglicht es, den Geist effektiv für das zu trainieren, was er im christlichen Leben tun soll.
Gesetzlichkeit der alten Schule ist fast nirgendwo mehr ein Problem. Menschengebote dagegen fast überall. Zeit sie als das zu sehen, was sie sind. Und das beginnt damit, sie richtig zu benennen.
[1] Ein Freund berichtete mir von dieser Aussage einer Leiterfigur in seinen Gemeindekreisen.
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