Konfrontiert mit zersetzenden Lehren in den von ihm gegründeten Gemeinden, argumentiert der Apostel Paulus auffallend oft, dass diese falschen Lehren «nicht gesund» oder «gegen die gesunde Lehre» sind.
In der Tat ist das zugrunde liegende griechische Wort hygiaino, woher unser Wort ‹Hygiene› stammt.
Das Interessante ist, dass Paulus sich nicht darauf konzentriert, den Inhalt der falschen Lehren zu widerlegen (obwohl er dazu hier und da Stellung nimmt). Vielmehr lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers (in erster Linie die von Timotheus bzw. Titus) auf ihre Auswirkungen und ihren Gesamtcharakter.
Die Übersetzung von hygiaino mit «gesund» hilft sehr, um zu verstehen, worum es geht. Was Ernährung sind sich alle meist darüber einig, was gesund ist und was nicht. Junk Food, Rauchen und ein Mangel an sinnstiftenden Tätigkeiten sind ungesund für Körper und Geist; Gemüse, Sport und erfüllte Beziehungen sind gesund. Der Punkt ist, dass wir dies aus dem allgemeinen Eindruck entnehmen, den wir von Personen bekommen, die das eine oder andere praktizieren. Wir müssen nicht die genauen zugrundeliegenden biochemischen oder psychologischen Mechanismen kennen, um mit Recht behaupten zu können, dass einige Dinge gesund und andere ungesund sind.
Und so ist es auch mit Doktrinen. Oder sollte ich sagen: Narrativen? ‹Narrativ› ist zu einem Modewort geworden; nur Gelehrte würden sagen, dass sie die ‹Lehren› von Yuval Harari oder Black Lives Matter erforschen oder glauben. ‹Doktrin› ist ein veraltetes Wort, das an die Moderne erinnert, in der Wahrheitsansprüche aufeinanderprallten. Aber ‹Narrativ› ist, als sein Ersatz, eigentlich eine Bereicherung. Denn ein Narrativ kann ganz klar wahr oder falsch sein (entgegen den Behauptungen der Postmodernen), aber es hat zusätzlich die Vorstellungskraft auf seiner Seite, die die ansonsten abstrakten und teilweise sterilen Doktrinen zum Leben erweckt.
Wenn das alles zutrifft, dann kann man einen gesunden Narrativ von einem toxischen an von ihren Auswirkungen und ihren Charakteren unterscheiden. Muss man dazu die langfristigen Folgen abwarten? Ich denke nicht. Sonst hätte Paulus Timotheus und Titus raten müssen, noch ein oder zwei Jahre zu warten, aber er hat genau das Gegenteil getan: Gerade der Titusbrief schlägt einen der eindringlichsten Töne im ganzen Neuen Testament an. Normalerweise kann man den Charakter einer Erzählung ziemlich schnell erkennen. Sieh in das Gesicht des Völlerers, und du siehst den Weg, auf dem er sich befindet; extrapoliere deine anfänglichen Eindrücke, und du erkennst sein entsetzliches Ende.
Ich möchte nun das «Prinzip der Gesundheit» auf ein Narrativ anwenden, das uns seit mindestens 2001 verkauft wird. Ich nenne es das ‹Technokratie-Narrativ» (in Ermangelung eines besseren Begriffs, um ehrlich zu sein). Es geht in etwa so: es gibt Bedrohungen da draussen (Terrorismus, Pandemien, Klimawandel); wir müssen uns vor diesen Bedrohungen schützen; Regierungen sind für diesen Schutz verantwortlich; daher sollte es Regierungen erlaubt sein, alles zu tun, was sie für richtig halten, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Nun ist keine der vorgenannten Prämissen an sich leicht zu widerlegen. Es gibt eindeutig Bedrohungen, wir sind gut beraten, uns vor ihnen zu schützen, es ist richtig (zumindest nach der Hobbes’schen Auffassung), dass Regierungen das Mandat haben, Massnahmen auf gesellschaftlicher Ebene zu ergreifen, und es scheint vernünftig, dass diese Bedrohungen um jeden Preis bekämpft werden sollten (insbesondere nach Hans Jonas› «Imperativ der Verantwortung»). Aber ist diese Schlussfolgerung gesund? Gewährleistet ein solcher Ansatz das menschliche Gedeihen? Oder ist sie für unsere Seelen eher das, was schlechte Luft für unsere Lungen ist – ein subtiles, aber wirksames Gift?
Hygiene ist zweifellos gut. Jene holistische Gesundheit, die ihr griechisches Stammwort meint, geht weit über sie hinaus.