C.S. Lewis’ Unterscheidung zwischen den Erkenntniswegen «looking at» und «looking along», die im Deutschen in etwa «wissen» bzw. «kennen» entsprechen (oder im Französichen «savoir» und «connaître»), ist eine sehr hilfreiche.
Ich möchte sie hier auf eine Fragestellung anwenden, die mir besonders am Herzen liegt.
Christen sagen oft, sie liessen sich von Gott führen. In den wenigsten Fällen geschieht das durch ein direktes, propositionales[1] Sprechen Gottes. In der Praxis handelt es sich eher um eine Kombination aus Gebet, Nachdenken, Umständen und Intuition. Konkretes Beispiel: ein junger Familienvater verspürt den Ruf, seinen Broterwerb (sagen wir, er ist beamteter Lehrer) aufzugeben und Philosoph zu werden. Ist das ein Ruf Gottes? Um die Frage im Sinne von „darauf sehen“ zu beantworten, brauchen wir einen Kriterienkatalog dafür, wann in so einer Situation eine Führung Gottes vorliegt. Solche Kriterien müssen für den Protagonisten genauso wie für Aussenstehende einsehbar sein. Beispiele könnten sein: dass eine ausgeprägte Fähigkeit zum Philosophieren vorliegt; dass die Philosophie zur Verbreitung oder Verteidigung des christlichen Glaubens dienen soll; oder dass die Ehefrau zustimmt. Das Problem ist freilich, dass alle diese Kriterien zutreffen, aber gar kein Verlangen zum Philosophieren vorliegt; oder dass die Person zwar eine brennende Passion dafür hat, aber einige der Kriterien nicht zutreffen. Wäre es im ersten Fall gerechtfertigt, von einer Berufung zu sprechen, und diese Adelung im zweiten Fall vorzuenthalten?
Mir scheint, dass, so legitim und wichtig die „looking at“-Kriterien auch sind, die involvierte Person immer auch ein „looking along“-Urteil fällen muss. Mit anderen Worten: Ihre erste-Person-Perspektive, uneinsehbar durch andere, ist unabdingbar. Der richtige Weg ist rational unterdeterminiert, wie wenn man ein Gleichungssystem, das vier Variablen hat, mit drei Gleichungen lösen wollte. So könnte der junge Mann sagen, dass es ihn trotz einiger absehbarer Nachteile in die Philosophie zieht, und dies von einem inneren Frieden darüber begleitet ist, dass es sich nicht um einen egoistischen Wunsch handelt. In manchen Fällen werden mehrere Wege gleichermassen die „looking at“-Kriterien erfüllen; in anderen (eher seltenen) Fällen mag der als Berufung empfundene Weg ganz unvernünftig erscheinen.
An diesem Punkt wird eine wichtige Schnittstelle zwischen „entlang sehen“ und „darauf sehen“ deutlich. Vermittels „looking along“ gewonnene Eindrücke sollten durch sorgfältiges „looking at“, also Nachdenken und Bewerten, geprüft werden. Im Grunde muss der Erfahrende eine Aussenperspektive auf sich als direkt Erfahrenden einnehmen und quasi advocatus diavoli spielen (wobei tatsächlich Aussenstehende dabei ungemein hilfreich sein können): Wo könnte Wunschdenken herrschen? Wo betrüge ich mich vielleicht selbst, rede mir Dinge schön? Was sind meine Motive?
Und dennoch, das sorgfältigste rationale Prüfen muss letztlich der gereiften Intuition den Vortritt lassen. Paulus ging nach Jerusalem, obwohl Agabus ihm Gefangenschaft voraussagte (Apostelgeschichte 21,11), die dann auch eintrat. In The Hobbit tritt eine Gesellschaft von 13 Zwergen und einem Hobbit gegen den gigantischen Feuerdrachen Smaug an, weil ihre Berufung sie zur Rückeroberung von Erebor treibt. Und Jesus Christus nahm das Kreuz auf sich „um der vor ihm liegenden Freude willen“ (Hebräer 12,2/ELB). An letzterem Beispiel wird deutlich, dass der steinige und gefährliche Pfad entlang des Gesehenen (wenn es denn von Gott gezeigt wurde) immer auch der rational Beste ist – nach Abwägung aller Güter. Aber darin Einsicht zu erhalten wird uns nur manchmal zuteil, immer erst rückblickend, und in vielen Fällen wohl erst in der Welt, in der „weder Sonne noch Mond scheinen“, denn „sie wird von der Herrlichkeit Gottes überstrahlt“ (Offenbarung 21,23/NeÜ). Dann, auch wenn dies vielleicht etwas spekulativ ist, könnten «Ansehen» und «Entlangsehen» zu einem einzigen, einheitlichen Erkenntnisweg werden.
[1] Eine Proposition ist ein Satz, der einen Wahrheitswert hat, also wahr oder falsch sein kann. „Es regnet heute“ ist beispielsweise eine Proposition.
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